Ist die Digitalisierung ein Hebel für Nachhaltigkeit oder selbst Teil des Problems? Diese Frage klingt provokant, trifft aber den Kern der aktuellen Debatte. Die digitale Transformation gilt als einer der großen Hoffnungsträger für die Lösung globaler Herausforderungen: von besserer Bildung über effizientere Energieversorgung bis hin zur Optimierung von Lieferketten. Gleichzeitig wächst das Bewusstsein, dass der technologische Fortschritt selbst enorme ökologische und soziale Kosten verursacht.
Zwischen Aufbruch und Ernüchterung liegt ein Spannungsfeld, das wir genauer betrachten wollen. Wer Nachhaltigkeit ernst nimmt, muss auch die Licht- und Schattenseiten der Digitalisierung gleichermaßen beleuchten. Die 17 Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen bieten dabei einen hilfreichen Rahmen, um Chancen und Risiken systematisch einzuordnen.
Digitalisierung als Treiber der Nachhaltigkeit
Es gibt zahlreiche Beispiele, wie digitale Technologien positive Beiträge leisten können. Wir betrachten einige der SDGs genauer:
- Hochwertige Bildung (SDG 4) & Weniger Ungleichheiten (SDG 10):
Digitale Plattformen ermöglichen weltweit den Zugang zu Wissen, selbst in entlegenen Regionen. Kostenlose Online-Kurse, digitale Bibliotheken oder Übersetzungstools eröffnen Chancen, die vorher nicht denkbar waren. In Ländern mit schwacher Infrastruktur ersetzt ein Smartphone oft den fehlenden Zugang zu klassischen Bildungseinrichtungen – ein Schritt zu mehr Gleichheit und Teilhabe. - Gesundheit und Wohlergehen (SDG 3):
Telemedizin und digitale Diagnostik können die Gesundheitsversorgung erheblich verbessern. Patientendaten lassen sich schneller analysieren, Algorithmen unterstützen bei der Früherkennung von Krankheiten, und Ärztinnen können Patientinnen auch aus der Ferne betreuen. Gerade in strukturschwachen Regionen ist das ein echter Fortschritt. Übrigens: Über den Einfluss von technologischem Fortschritt auf die medizinische Wissenschaft schrieb Alejandro den Beitrag Blockchain und Gesundheit. - Industrie, Innovation und Infrastruktur (SDG 9):
In der Produktion sorgen digitale Zwillinge und vernetzte Sensoren für höhere Effizienz, weniger Ausschuss und optimierte Lieferketten. Auch in der Logistik hilft Datenanalyse, Routen zu verkürzen und Emissionen zu senken. Die Vision von Smart Grids verspricht, Energieflüsse dynamisch an Angebot und Nachfrage anzupassen – ein entscheidender Hebel für die Energiewende. - Maßnahmen zum Klimaschutz (SDG 13):
Digitale Technologien machen komplexe Systeme berechenbarer. Klimamodelle werden präziser, landwirtschaftliche Prozesse lassen sich datengetrieben optimieren, und Smart-City-Anwendungen helfen, Ressourcen besser einzusetzen. In der Theorie kann die Digitalisierung damit einen entscheidenden Beitrag zum Erreichen der Klimaziele leisten.
Digitalisierung als Belastung für die Nachhaltigkeit
Wo Licht ist, ist auch Schatten. Werfen wir einen Blick auf die Kehrseite der glänzenden Beispiele:
- Energieverbrauch:
Rechenzentren sind heute schon für einen erheblichen Anteil des weltweiten Stromverbrauchs verantwortlich. Mit dem rasanten Aufstieg von KI-Anwendungen steigt dieser Bedarf weiter. Das Training großer Sprachmodelle oder Bildgeneratoren verschlingt so viel Energie wie tausende Haushalte in einem Jahr. Prognosen gehen davon aus, dass der Anteil der Informations- und Kommunikationstechnologie am globalen Stromverbrauch in den kommenden Jahren massiv anwachsen wird. - Rohstoffbedarf:
Smartphones, Laptops, Serverfarmen – all diese Geräte benötigen seltene Erden, Metalle und Mineralien, deren Abbau ökologische Katastrophen und soziale Konflikte mit sich bringt. Lithium, Kobalt und Nickel sind (derzeit noch) unersetzbar für Batterien und Speichertechnologien. Der Abbau dieser Rohstoffe konzentriert sich jedoch oft auf wenige Länder und Regionen, mit allen geopolitischen Abhängigkeiten und ökonomischen sowie gesundheitlichen Risiken, die damit verbunden sind. - Elektroschrott:
Die Innovationszyklen im digitalen Sektor sind kurz. Geräte werden in immer schnelleren Abständen ersetzt, oft nicht weil sie defekt sind, sondern weil neue Software-Updates ältere Hardware ausbremst. Jährlich entstehen so Millionen Tonnen Elektroschrott – ein Problem, das durch Recycling nur unzureichend abgefedert wird. - Rebound-Effekte:
Vielleicht die subtilste, aber entscheidendste Gefahr: Effizienzgewinne führen oft nicht zu Einsparungen, sondern zu Mehrkonsum. Wenn Cloud-Speicher günstiger wird, lagern wir mehr Daten. Wenn Online-Handel einfacher wird, steigt die Zahl der Bestellungen. Wenn Autos effizienter werden, legen wir längere Strecken zurück. Digitalisierung kann so das Gegenteil von dem bewirken, was sie verspricht.
Die SDGs im Spannungsfeld
Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung sind eine Art globaler Kompass. Schaut man aus ihrer Perspektive auf die Digitalisierung, ist die Sicht deutlich ambivalent.
Da sind positive Hebel: Digitalisierung kann direkt zur Erreichung von Zielen wie hochwertige Bildung (SDG 4), Gesundheit und Wohlergehen (SDG 3), Industrie, Innovation und Infrastruktur (SDG 9) oder weniger Ungleichheiten (SDG 10) beitragen.
Andererseits lassen sich die Zielkonflikte nicht wegdiskutieren. Die Digitalisierung gefährdet nämlich gleichzeitig Ziele wie Bezahlbare und saubere Energie (SDG 7), Nachhaltiger Konsum und Produktion (SDG 12), Maßnahmen zum Klimaschutz (SDG 13) oder Leben an Land (SDG 15).
Die entscheidende Frage lautet also: Wie lässt sich sicherstellen, dass die positiven Effekte die negativen überwiegen?
Ambivalenz statt Schwarz-Weiß
Es wäre naiv, die Digitalisierung wahlweise als Heilsbringer oder als Zerstörer darzustellen. Sie ist beides – oder genauer gesagt: Sie kann beides sein. Ob digitale Technologien am Ende mehr Chancen oder mehr Probleme bringen, hängt nicht von der Technik selbst ab, sondern von ihrem Einsatz, ihrer Regulierung und der gesellschaftlichen Verantwortung, die wir übernehmen.
Digitalisierung darf nicht als Selbstzweck verstanden werden, sondern muss in den Dienst klarer Nachhaltigkeitsziele gestellt werden. Wichtig ist zudem, dass es klare Regeln für Energieverbrauch, Recyclingquoten und Lieferketten gibt. Außerdem muss sichergestellt sein, dass Rohstoffe nicht unter menschenunwürdigen Bedingungen gewonnen werden
Ausblick: Die nächsten Dimensionen
Dieser Artikel markiert den Auftakt zu einer Serie, die sich in den kommenden Wochen intensiver mit den Kernfragen beschäftigt:
- Green IT oder Greenwashing: Wann sind Nachhaltigkeitsversprechen im Tech-Sektor glaubwürdig – und wann nicht?
- Rohstoffresilienz: Wie abhängig ist die Digitalisierung von knappen Ressourcen?
- Energiehunger: Welche Chancen und Risiken liegen im steigenden Strombedarf?
- Kreislaufwirtschaft: Wie können digitale Tools helfen, Materialkreisläufe zu schließen?
Die Antworten sind nicht eindeutig, und genau darin liegt ihr Wert. Digitalisierung ist kein statisches Phänomen, sondern ein Feld voller Spannungen, in dem jede Entscheidung zählt. Wir müssen wissenschaftliche Kriterien entwickeln, um Effekte vergleichbar messen zu können. Diese wiederum müssen auch gesellschaftlich akzeptiert werden.
Da wir fest daran glauben, dass wir durch den Austausch unterschiedlicher Perspektiven Antworten finden können, planen wir – gemeinsam mit unserem Partner, dem Swiss Productivity Network – eine Paneldiskussion zu diesem Thema.
Ihr habt Impulse oder Beispiele aus der Praxis? Oder ihr habt Lust, als Referentin oder Referent an der Veranstaltung teilzunehmen? Schreibt uns an hello@kwintum.com. Wir freuen uns über eure Nachricht.




